Dienstag, 30. Juni 2015

Zahlen, bitte!

Ich lebe in einer Welt, in die ich nicht hineingehöre. Das war mir schon als Kind klar. So klar, dass ich mich schon damals in eigene Welt zurückgezogen habe. Meine Welt. Meine Welt, in der alles besser ist. Doch irgendwann musste ich einsehen: Es ist nicht real. Schade drum, denn ich bin noch immer gerne dort. Ich frage mich, was wäre, wenn ich nicht in einem „freien“ Land geboren worden wäre, in dem „jeder tun kann, was er will“, sondern in einem freien Land, in dem jeder tun kann, was er will. Jeder kann tun, was er will. Natürlich, deswegen habe ich auch versucht, mich anzupassen und wäre beinahe soweit gewesen, dass ich tagtäglich in Bluse und Blazer ins Büro gerannt wäre. Ich kenne Leute, die das gerne tun, aber ich musste es, weil mir jeder, restlos jeder erzählt hat, ich solle etwas Ordentliches machen. Da frage ich mich: Was ist „etwas Ordentliches“? Büroarbeit? Danke, darauf kann ich verzichten. Nur, weil es die sicherste Alternative ist, heißt das noch lange nicht, dass jeder im feinen Kragen zu einem Gebäude dackeln muss, bei dem ihm schon vom Hinsehen schlecht wird. Nein. Das ist nicht, was ich will.
Nichts so tun zu können, wie ich es für richtig halte, kotzt mich an. Man muss sich früh für einen Weg entscheiden, denn natürlich braucht man für alles eine spezielle Ausbildung. Für eine passende Ausbildung braucht man Geld. Und Zeit. Und den passenden Papierkram natürlich. Ohne Papierkram geht gar nichts.
Es ist eine Welt, die nur aus Zahlen und Formeln besteht. Eine Welt der Formulare und Termine. Eine Welt der festen Arbeitsstellen und der Ortsgebundenheit. Ich sehe sie als eine Welt, die uns an Bürostühle kettet und jeder andere Beruf ein Luxus ist, den sich nicht jeder erlauben kann. Wir werden an einem Ort festgehalten und nicht mehr freigelassen, bis wir zu alt dafür sind um in unserem Leben noch etwas zu erleben und etwas von der Welt zu sehen. Wenn wir die Zeit hätten, den Ort zu verlassen, an dem wir unser ganzes Leben verbracht haben, haben wir, wer hätte es geglaubt? Zu wenig Geld dafür. Wenn man weg will braucht man Geld. Und Zeit. Und beides gleichzeitig kann man nicht haben außer man ist ein sogenanntes It-Girl, das reich geboren wurde, durch die Welt jettet und irgendwann reich sterben wird und dann niemals auch nur einmal im Leben zu schätzen gewusst hatte, was ihm durch seinen Reichtum an Geld und Zeit alles ermöglicht worden ist. Das niemals etwas aus dem gemacht hat, was es hatte, weil es einfach viel zu egoistisch war, zu sehen, was es anderes als Parties, Drogen, Schlagzeilen und Sex gibt. Etwas gutes bewirken zum Beispiel. Nun, arbeiten müssen sie irgendwann ja auch mal, schätze ich. Und nein, Charity-Lady ist kein Job.
Da sagt man dann, wir alle seien gleich. Leider sind manche etwas gleicher als andere. Da haben wir etwas gleicheren leider Pech gehabt. Die wenigen Momente, die wir genießen können, wenn wir einem „ordentlichen“ Job nachgehen - Ich erinnere: In einem Büro sitzen und genau die privaten Kassenbons der Chefs einheften, bei denen wir dann genau wissen, wo das Gehalt hingeht, das wir zu wenig bekommen - Diese Momente vergehen viel zu schnell. Die wenigen Momente, in denen wir uns frei fühlen. Frei von Bürokratie. Frei von Geldsorgen. Frei von Fesseln, die uns da festhalten, wo wir nicht sein wollen: In der Telefonzentrale eines Bürokomplexes, in dem wir am unteren Ende der Nahrungskette stehen.
Während meines Wirtschaftsstudiums habe ich genau so gefühlt. Ich wollte nicht wissen, was ein Agio ist, wie die Qualität von Schrauben rechnerisch überprüft wird und ich wollte auch nicht ausrechnen, was für einen Studenten günstiger ist: Zug oder Auto? Mal ehrlich, das sieht man auf den ersten Blick. Er hat ein Semesterticket. Wie viel nach seinem Studium eine Monatskarte kostet, wissen wir ja nicht, deswegen war die Aufgabe nicht lösbar. Und genau das habe ich als Lösung hingeschrieben. Meine richtige Lösung. Ich kann mit Zahlen nicht umgehen und bin deswegen in dieser Welt immer öfter überfordert.
Ich erinnere mich zurück und fühle mich wieder genauso unwohl, wie ich es zu diesem Zeitpunkt getan hatte. Ich sehe aus dem Fenster, auf die dicht befahrene Straße. Die Matheaufgaben sind gerade uninteressant. Ich falle sowieso wieder durch. Die Autos auf der Straße interessieren mich mehr. Wer kommt wohl gerade aus dem Büro oder sonstwo her und will nur noch nach Hause auf die Couch? Sicherlich 80 Prozent. Da! Schon wieder eine Zahl! Und wir benutzen sie immer wieder. Zahlen. Zahlen. Zahlen. Bewusst. Unbewusst. Und sie sind überall. Überall, wo ich hinschaue. Menschen werden zu Zahlen, wohin ich auch gehe. Personalnummer. Matrikelnummer. Ausweisnummer. Kundennummer. Wir alle sind Nummern. Jeder von uns. Du. Ich. Und es kommen immer neue hinzu. Ich könnte Mitarbeiterin Nummer 813-739 werden. Oder Patientin Nummer 241. Jeder Mensch wird immer und immer mehr zu einer Ansammlung von Zahlen. Auch zu welchen, die uns nicht durchnummerieren. Ich zum Beispiel bin auch eine 3, weil ich schon zum dritten Mal in Mathe durchfallen werde. Manchmal bin ich auch eine 0, so im großen und ganzen Zusammenhang mit Zahlen.
Ich gehe hinaus auf die Straße und schaue mir die Autos näher an. Ich sehe Nummernschilder. Modellnummern. Dass ich mich in der Großstadt befinde und nicht zu Hause, macht das ganze nicht gerade besser. Menschen laufen an mir vorbei. Männer in Anzügen. Frauen in Kostümen und hohen Schuhen. alles grau in grau. Und manchmal auch schwarz. Keine Farben. Trist. Bedrückend. Beängstigend.
Sie sehen mich nicht, wie ich da stehe, mitten in diesem Gedränge. Zu sehr ist jeder mit sich selbst beschäftigt. Sie sprechen vor sich hin, mit Knöpfen in den Ohren und den Telefonen in den Taschen. Sie sehen aus, als führten sie Selbstgespräche, wie sie da laufen mit Scheuklappen und Aktentasche. Niemand von ihnen nimmt die Welt um sich herum wahr. Und ich stehe da. BWL-Studentin, die bald auch Scheuklappen trägt. Ich schaue mich um. Nehme alles in mich auf. Und stehe da inmitten des Grau.

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