Dienstag, 9. Juni 2015

Brief an meine Angst

Ihr habt mich eingeladen. Sagt mal, wollt ihr mich verarschen? Wisst ihr nicht, was ihr mir damit antut? Seitdem sehe ich es immer wieder vor mir. Immer und immer wieder. Wenn ich die Augen schließe. Wenn ich alleine bin. Wenn mich niemand davor beschützen kann. Ich höre immer wieder eure Stimmen. Wie ihr mich auslacht. Wie ihr so tut, als wäre ich nicht da.
Ich will euch nicht sehen. Ich will nie wieder etwas von euch hören. Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich niemals zu einem Klassentreffen eingeladen würde. Ehrlich gesagt hatte ich es sogar gehofft. Nein, ich will euch nicht sehen. Nicht jetzt. Nicht in ein paar Jahren. Nicht in einem Jahrhundert. Niemals wieder. Ich will nicht mit euch reden. Ich will euch auch nicht zuhören.
Schön dich zu sehen“, würdet ihr sagen. Sagt mal, wollt ihr mich verarschen? Nicht mehr als heuchlerisches Geschwätz. Ich warte drauf, dass es vorbei ist. Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe? Ich dachte, nach dem Schulabschluss wäre es vorbei. Doch ich sehe noch immer eure Fratzen vor mir. Höhnisch lachend, weil ich nichts gegen eure Einheit ausrichten konnte. Ignorieren half nicht. Mich zu wehren half nicht.
Wenn du nicht darauf eingehst, hören sie von selber auf. Ignorier es einfach.“ Von wegen! Diesen Ratschlag hatte ich schon viel zu oft gehört. Ich hatte es versucht. Wirklich. Aber bloßes Ignorieren stachelte euch nur noch mehr an. Ihr habt euch aufgedrängt, mich in die Ecke getrieben und mich dann noch verspottet, wenn ich versucht habe, aus dieser Ecke auszubrechen. Ihr habt euch immer mehr aufgedrängt. Noch mehr, Und noch mehr. Sagt mal, wollt ihr mich verarschen? Ihr wollt mich sehen, mit mir einen trinken gehen als sei nichts geschehen? Mein Plan war zu überleben, euch keine Vorlagen zu geben, die ihr überall gefunden habt. Egal, was ich tat. Oder was ich ließ.

Als ich meinen ersten Freund hatte, wurde es noch schlimmer. Ich dachte, es musste so sein. Wirklich. Ich dachte, es sei eben so, dass man seinem Freund all seine Freizeit opfern muss. Dass man ihn in jeder Pause und Freistunde anrufen muss. Ich dachte, es sei normal, ihm jeden verdammten Tag den Vertretungsplan mitbringen zu müssen und niemals mit einem männlichen Mitschüler sprechen zu dürfen. Ihr hättet es mir sagen können. Ihr hättet mir helfen können. Sagt mal, wollt ihr mich verarschen? Ich dachte, es sei normal, immer erreichbar sein zu müssen, sogar mitten im Unterricht. Und wehe ich bin nicht rangegangen, wenn mitten in der Stunde das Telefon geklingelt hat.
Ich war hin- und her gerissen zwischen meinem Stolz und dem, was ich für meine Pflicht hielt. Leider hatte ich das Falsche aufgegeben. Aber ich dachte, es müsse so sein.
Er konnte mir alles erzählen. Dass eine Beziehung nur funktionieren kann, wenn man sich jeden Tag, jeden verdammten Tag direkt nach der Schule sieht. Bis. Man. Schlafen. Geht. Dass man immer nachweisen muss, wo man im Laufe des Tages gewesen ist. Dass man Ärger bekommt, wenn man den Bus verpasst. Sag mal, wolltest du mich verarschen?
Natürlich bekam das in der Schule jeder mit. Und ihr nahmt es euch zur Vorlage. Ich litt unter meinem Freund. Und deshalb litt ich noch mehr als vorher unter euch. Denn ihr dachtet, ich hätte das alles freiwillig getan. Freiwillig! Dass ich nicht lache! Sagt mal, wollt ihr mich verarschen? Ihr machtet euch darüber lustig, was ich tat und äfftet mich pausenlos nach.
Alles, was ich tat, breitete sich unter lautem Gelächter in der ganzen Schule aus, sogar bei Leuten, die ich nicht kannte.
Ihr habt mein Leben ruiniert bevor es richtig begonnen hatte. Nein, ich will euch wirklich nicht sehen, bleibt mir vom Hals! Nur ohne euch kann ich das Beste aus diesem Trümmerhaufen machen, der sich mein Leben schimpft und den ich noch immer am aufräumen bin.
Es ist jetzt fünf Jahre her und ich kann noch immer nicht unbeschwert leben. Ich kann noch immer nicht schlafen und alles, was ich sage, kommt mir dumm vor.
Ich habe noch immer Angst vor euch. Ich habe noch immer Angst vor ihm. Und ich habe mich durch euch zu dem entwickelt, was ich jetzt bin. Zynisch. Kalt. Fast tot.
Angst vor der Dunkelheit.
Angst davor, zu schlafen.
Angst vor Einsamkeit.
Angst davor, nichts wert zu sein.

Fällt euch etwas auf? Statt Spott hätte ich Hilfe gebraucht.

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