Ich
lebe in einer Welt, in die ich nicht hineingehöre. Das war mir schon
als Kind klar. So klar, dass ich mich schon damals in eigene Welt
zurückgezogen habe. Meine Welt. Meine Welt, in der alles besser ist.
Doch irgendwann musste ich einsehen: Es ist nicht real. Schade drum,
denn ich bin noch immer gerne dort. Ich frage mich, was wäre, wenn
ich nicht in einem „freien“ Land geboren worden wäre, in dem
„jeder tun kann, was er will“, sondern in einem freien Land, in
dem jeder tun kann, was er will. Jeder kann tun, was er will.
Natürlich, deswegen habe ich auch versucht, mich anzupassen und wäre
beinahe soweit gewesen, dass ich tagtäglich in Bluse und Blazer ins
Büro gerannt wäre. Ich kenne Leute, die das gerne tun, aber ich
musste es, weil mir jeder, restlos jeder erzählt hat, ich solle
etwas Ordentliches machen. Da frage ich mich: Was ist „etwas
Ordentliches“? Büroarbeit? Danke, darauf kann ich verzichten. Nur,
weil es die sicherste Alternative ist, heißt das noch lange nicht,
dass jeder im feinen Kragen zu einem Gebäude dackeln muss, bei dem
ihm schon vom Hinsehen schlecht wird. Nein. Das ist nicht, was ich
will.
Nichts
so tun zu können, wie ich es für richtig halte, kotzt mich an. Man
muss sich früh für einen Weg entscheiden, denn natürlich braucht
man für alles eine spezielle Ausbildung. Für eine passende
Ausbildung braucht man Geld. Und Zeit. Und den passenden Papierkram
natürlich. Ohne Papierkram geht gar nichts.
Es
ist eine Welt, die nur aus Zahlen und Formeln besteht. Eine Welt der
Formulare und Termine. Eine Welt der festen Arbeitsstellen und der
Ortsgebundenheit. Ich sehe sie als eine Welt, die uns an Bürostühle
kettet und jeder andere Beruf ein Luxus ist, den sich nicht jeder
erlauben kann. Wir werden an einem Ort festgehalten und nicht mehr
freigelassen, bis wir zu alt dafür sind um in unserem Leben noch
etwas zu erleben und etwas von der Welt zu sehen. Wenn wir die Zeit
hätten, den Ort zu verlassen, an dem wir unser ganzes Leben
verbracht haben, haben wir, wer hätte es geglaubt? Zu wenig Geld
dafür. Wenn man weg will braucht man Geld. Und Zeit. Und beides
gleichzeitig kann man nicht haben außer man ist ein sogenanntes
It-Girl, das reich geboren wurde, durch die Welt jettet und
irgendwann reich sterben wird und dann niemals auch nur einmal im
Leben zu schätzen gewusst hatte, was ihm durch seinen Reichtum an
Geld und Zeit alles ermöglicht worden ist. Das niemals etwas aus dem
gemacht hat, was es hatte, weil es einfach viel zu egoistisch war, zu
sehen, was es anderes als Parties, Drogen, Schlagzeilen und Sex gibt.
Etwas gutes bewirken zum Beispiel. Nun, arbeiten müssen sie
irgendwann ja auch mal, schätze ich. Und nein, Charity-Lady ist kein
Job.
Da
sagt man dann, wir alle seien gleich. Leider sind manche etwas
gleicher als andere. Da haben wir etwas gleicheren leider Pech
gehabt. Die wenigen Momente, die wir genießen können, wenn wir
einem „ordentlichen“ Job nachgehen - Ich erinnere: In einem Büro
sitzen und genau die privaten Kassenbons der Chefs einheften, bei
denen wir dann genau wissen, wo das Gehalt hingeht, das wir zu wenig
bekommen - Diese Momente vergehen viel zu schnell. Die wenigen
Momente, in denen wir uns frei fühlen. Frei von Bürokratie. Frei
von Geldsorgen. Frei von Fesseln, die uns da festhalten, wo wir nicht
sein wollen: In der Telefonzentrale eines Bürokomplexes, in dem wir
am unteren Ende der Nahrungskette stehen.
Während
meines Wirtschaftsstudiums habe ich genau so gefühlt. Ich wollte
nicht wissen, was ein Agio ist, wie die Qualität von Schrauben
rechnerisch überprüft wird und ich wollte auch nicht ausrechnen,
was für einen Studenten günstiger ist: Zug oder Auto? Mal ehrlich,
das sieht man auf den ersten Blick. Er hat ein Semesterticket. Wie
viel nach seinem Studium eine Monatskarte kostet, wissen wir ja
nicht, deswegen war die Aufgabe nicht lösbar. Und genau das habe ich
als Lösung hingeschrieben. Meine richtige Lösung. Ich kann mit
Zahlen nicht umgehen und bin deswegen in dieser Welt immer öfter
überfordert.
Ich
erinnere mich zurück und fühle mich wieder genauso unwohl, wie ich
es zu diesem Zeitpunkt getan hatte. Ich sehe aus dem Fenster, auf die
dicht befahrene Straße. Die Matheaufgaben sind gerade uninteressant.
Ich falle sowieso wieder durch. Die Autos auf der Straße
interessieren mich mehr. Wer kommt wohl gerade aus dem Büro oder
sonstwo her und will nur noch nach Hause auf die Couch? Sicherlich 80
Prozent. Da! Schon wieder eine Zahl! Und wir benutzen sie immer
wieder. Zahlen. Zahlen. Zahlen. Bewusst. Unbewusst. Und sie sind
überall. Überall, wo ich hinschaue. Menschen werden zu Zahlen,
wohin ich auch gehe. Personalnummer. Matrikelnummer. Ausweisnummer.
Kundennummer. Wir alle sind Nummern. Jeder von uns. Du. Ich. Und es
kommen immer neue hinzu. Ich könnte Mitarbeiterin Nummer 813-739
werden. Oder Patientin Nummer 241. Jeder Mensch wird immer und immer
mehr zu einer Ansammlung von Zahlen. Auch zu welchen, die uns nicht
durchnummerieren. Ich zum Beispiel bin auch eine 3, weil ich schon
zum dritten Mal in Mathe durchfallen werde. Manchmal bin ich auch
eine 0, so im großen und ganzen Zusammenhang mit Zahlen.
Ich
gehe hinaus auf die Straße und schaue mir die Autos näher an. Ich
sehe Nummernschilder. Modellnummern. Dass ich mich in der Großstadt
befinde und nicht zu Hause, macht das ganze nicht gerade besser.
Menschen laufen an mir vorbei. Männer in Anzügen. Frauen in
Kostümen und hohen Schuhen. alles grau in grau. Und manchmal auch
schwarz. Keine Farben. Trist. Bedrückend. Beängstigend.
Sie
sehen mich nicht, wie ich da stehe, mitten in diesem Gedränge. Zu
sehr ist jeder mit sich selbst beschäftigt. Sie sprechen vor sich
hin, mit Knöpfen in den Ohren und den Telefonen in den Taschen. Sie
sehen aus, als führten sie Selbstgespräche, wie sie da laufen mit
Scheuklappen und Aktentasche. Niemand von ihnen nimmt die Welt um
sich herum wahr. Und ich stehe da. BWL-Studentin, die bald auch
Scheuklappen trägt. Ich schaue mich um. Nehme alles in mich auf. Und
stehe da inmitten des Grau.