Sie
steht vor dem Spiegel und erkennt sich selbst nicht mehr. Graue Haut. Blauer
und grüner Schimmer. Ein leerer Blick, der herausschreit, was sie schon lange
nicht mehr zu denken wagt: „Hilfe!“ Ihre Fähigkeit, zu fühlen, ertränkt sie in
Schnaps. Oder sie versucht es zumindest. Bei ihrem momentanen Alkoholpegel
lassen zumindest die Schmerzen im Rücken ein bisschen nach. Gerade eben hat sie
mal wieder Bekanntschaft mit der Heizung gemacht. Warum? Eifersuchtsanfall. Sie
hatte den Zug verpasst. Zitat: Zug verpasst! Verarschen kann ich mich selber, du Stück Scheiße! Du
warst bei deinem Stecher und hast dich durchficken lassen! Sag doch nur einmal
die Wahrheit! Zitat Ende.
Sie
dreht eine Packung Paracetamol in der Hand und fragt sich, ob sie sie gleich
noch schlucken soll. Am besten die zweite, die noch im Schrank liegt, gleich
hinterher. Sicher ist sicher. Sicher. Sicher ist nur, dass es Stunden bis Tage
dauern und sie große Schmerzen haben würde. Also keine Tabletten.
Sie
lässt die Packung auf den Boden fallen und nimmt einen weiteren Schluck aus der
Flasche.
Die
Machete dieses Typen wäre scharf genug, ihren Arm mit Leichtigkeit
aufzuschneiden. Es wäre zwar eine ziemliche Sauerei, aber das hier ist ja auch
kein sauberes Haus. In keiner Hinsicht. Sie stellt sich vor, wie alles aus ihr
herausgespült wird. Leid. Angst. Verzweiflung. Dann könnte er ihr nicht mehr
wehtun. Niemand könnte es. Ein kurzer Schmerz und sie wäre frei. Frei von allen
Zwängen, frei von dem, was sich „Leben“ schimpft, in einer Welt, in die sie
nicht hinein gehört. Dann würde niemand sie mehr einsperren können und sie
würde sich nie wieder schmutzig fühlen.
Sie
schaut in den Spiegel und fragt sich, was aus ihr geworden ist. Was noch von
ihr übrig ist. Herausgerissen aus ihrem Elternhaus. Aus Ihrer Familie. Aus ihrer Welt. Weit fort von einem Leben,
das noch lebenswert gewesen ist.
Sie
berührt ihr Spiegelbild. Ihre blaue Wange. Ihre aufgeplatzte Schulter. Ihr
graues Gesicht. Ich will hier raus.
Im Moment dieses Gedanken muss sie schon darüber lachen, denn sie weiß genau,
sie kommt hier nicht heraus. Nicht lebendig. Sie fühlt sich schon seit langem genauso
verfault wie seine Essensreste, die mal wieder im Wohnzimmer herumliegen. Oder
das Bongwasser, das im Teppichboden vor sich hin gammelt. Wie sollte sie dann
lebendig den Weg in die Freiheit finden? Sie würde den Rest ihres Lebens
zwischen den vollgepissten Plastikflaschen dieses Typen verbringen, der sogar
zu faul ist, auf die Toilette zu gehen. Oder die Flaschen wenigstens zuzudrehen.
Oder zu entsorgen. Nein, er wartet lieber darauf, dass sie es tut.
Ja,
es gibt nur eine Möglichkeit. Sie wankt zum Telefon, um Ihrer Mutter wenigstens
mitzuteilen, dass es mit ihr zu Ende geht. Sonst würde wohl sicher niemand
etwas erzählen. Es ging ihr hier ja offensichtlich wunderbar. Und dieses Bild
würde doch niemand zerstören wollen, oder?
Tuuut…tuuut…tuuut…
„Warum
hast du mich noch nicht hier herausgeholt?“
Zwei
Jahre Später.
Ich
schaue in den Spiegel. Schneeweiße Haut. Augenringe. Ich schlafe zu wenig und
denke zu viel. Das Leben geht weiter, sagt man. Alles ist überstanden und mich
kann niemand mehr verletzen. Ich soll es nicht in die Zukunft tragen. Die
Vergangenheit ruhen lassen. Vergessen. Verdrängen.
Er
hat es nicht geschafft, mich umzubringen. Aber er läuft noch frei herum. Er
kann mir noch so viel antun. Ich kann es nicht verdrängen. Ich werde es nicht
verdrängen. Es hat mich zu der gemacht, die ich bin. Nicht mehr. Nicht weniger.
Er ist noch da draußen. Bestimmt. Er kann noch Andere verletzen.