Dienstag, 23. Dezember 2014

Spiegel



Sie steht vor dem Spiegel und erkennt sich selbst nicht mehr. Graue Haut. Blauer und grüner Schimmer. Ein leerer Blick, der herausschreit, was sie schon lange nicht mehr zu denken wagt: „Hilfe!“ Ihre Fähigkeit, zu fühlen, ertränkt sie in Schnaps. Oder sie versucht es zumindest. Bei ihrem momentanen Alkoholpegel lassen zumindest die Schmerzen im Rücken ein bisschen nach. Gerade eben hat sie mal wieder Bekanntschaft mit der Heizung gemacht. Warum? Eifersuchtsanfall. Sie hatte den Zug verpasst. Zitat: Zug verpasst! Verarschen kann ich mich selber, du Stück Scheiße! Du warst bei deinem Stecher und hast dich durchficken lassen! Sag doch nur einmal die Wahrheit! Zitat Ende.
Sie dreht eine Packung Paracetamol in der Hand und fragt sich, ob sie sie gleich noch schlucken soll. Am besten die zweite, die noch im Schrank liegt, gleich hinterher. Sicher ist sicher. Sicher. Sicher ist nur, dass es Stunden bis Tage dauern und sie große Schmerzen haben würde. Also keine Tabletten.
Sie lässt die Packung auf den Boden fallen und nimmt einen weiteren Schluck aus der Flasche.
Die Machete dieses Typen wäre scharf genug, ihren Arm mit Leichtigkeit aufzuschneiden. Es wäre zwar eine ziemliche Sauerei, aber das hier ist ja auch kein sauberes Haus. In keiner Hinsicht. Sie stellt sich vor, wie alles aus ihr herausgespült wird. Leid. Angst. Verzweiflung. Dann könnte er ihr nicht mehr wehtun. Niemand könnte es. Ein kurzer Schmerz und sie wäre frei. Frei von allen Zwängen, frei von dem, was sich „Leben“ schimpft, in einer Welt, in die sie nicht hinein gehört. Dann würde niemand sie mehr einsperren können und sie würde sich nie wieder schmutzig fühlen.
Sie schaut in den Spiegel und fragt sich, was aus ihr geworden ist. Was noch von ihr übrig ist. Herausgerissen aus ihrem Elternhaus. Aus Ihrer Familie. Aus ihrer Welt. Weit fort von einem Leben, das noch lebenswert gewesen ist.
Sie berührt ihr Spiegelbild. Ihre blaue Wange. Ihre aufgeplatzte Schulter. Ihr graues Gesicht. Ich will hier raus. Im Moment dieses Gedanken muss sie schon darüber lachen, denn sie weiß genau, sie kommt hier nicht heraus. Nicht lebendig. Sie fühlt sich schon seit langem genauso verfault wie seine Essensreste, die mal wieder im Wohnzimmer herumliegen. Oder das Bongwasser, das im Teppichboden vor sich hin gammelt. Wie sollte sie dann lebendig den Weg in die Freiheit finden? Sie würde den Rest ihres Lebens zwischen den vollgepissten Plastikflaschen dieses Typen verbringen, der sogar zu faul ist, auf die Toilette zu gehen. Oder die Flaschen wenigstens zuzudrehen. Oder zu entsorgen. Nein, er wartet lieber darauf, dass sie es tut.
Ja, es gibt nur eine Möglichkeit. Sie wankt zum Telefon, um Ihrer Mutter wenigstens mitzuteilen, dass es mit ihr zu Ende geht. Sonst würde wohl sicher niemand etwas erzählen. Es ging ihr hier ja offensichtlich wunderbar. Und dieses Bild würde doch niemand zerstören wollen, oder?
Tuuut…tuuut…tuuut…
„Warum hast du mich noch nicht hier herausgeholt?“

Zwei Jahre Später.
Ich schaue in den Spiegel. Schneeweiße Haut. Augenringe. Ich schlafe zu wenig und denke zu viel. Das Leben geht weiter, sagt man. Alles ist überstanden und mich kann niemand mehr verletzen. Ich soll es nicht in die Zukunft tragen. Die Vergangenheit ruhen lassen. Vergessen. Verdrängen.
Er hat es nicht geschafft, mich umzubringen. Aber er läuft noch frei herum. Er kann mir noch so viel antun. Ich kann es nicht verdrängen. Ich werde es nicht verdrängen. Es hat mich zu der gemacht, die ich bin. Nicht mehr. Nicht weniger. Er ist noch da draußen. Bestimmt. Er kann noch Andere verletzen.
Warum hast du mir das angetan?

2 Kommentare:

  1. Nachdem unser Schreibmarathon jetzt in den vierten Monat geht, habe ich es endlich mal geschafft, hier vorbeizuschauen und möchte dir sagen, dass mir dein Text wirklich sehr gut gefällt.
    Du schaffst es die Verzweiflung deiner Protagonistin glaubhaft zu transportieren. Zudem hast du eine schöne bildhafte Sprache. Ich bin gespannt, was es weiterhin von dir zu lesen gibt :-)
    viele Grüße
    Emma

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